Japans Radioaktivisten

Zwei deutsche Filmemacherinnen haben Japans Anti-AKW-Bewegung begleitet. Entstanden ist ein eindrücklicher Dokumentarfilm. Asienspiegel hat mit ihnen gesprochen.

Japans Radioaktivisten
An einer Anti-AKW-Demo in Tokio. Bild: Radioactivists.org

Julia Leser ist 23 Jahre alt, Studentin der Japanologie und Politikwissenschaften aus Leipzig. Seit fast einem Jahr lebt die grosse, blonde Frau mit einem Stipendium in Japan. Als im März die Erde bebte, war sie in Tokio. Als über dem Reaktor von Fukushima Rauchwolken aufstiegen, machten sie sich auf dem Weg nach Deutschland. Einen Monat später kehrte sie wieder zurück nach Japan. Im Gepäck hatte sie eine professionelle Filmausrüstung und ein klares Ziel: den Medienberichten etwas Eigenes entgegen zu setzen.

«Während in Deutschland hysterisch und sensationslüstern jede Information gebracht wurde, auch wenn sie teilweise ungeprüft war, bildete Japan das andere Ende des Spektrums», sagt Julia Leser, die gemeinsam mit ihrer Filmpartnerin Clarissa Seidel 50 Stunden Material für die Dokumentation sammelte. Entstanden ist ein 70 Minuten langer Dokumentarfilm namens Radioactivists, der vor kurzem in Tokio Premiere hatte und demnächst auf internationalen Filmfestivals laufen soll.

In Japan wurde zunächst sehr verhalten über das Reaktorunglück und seine Auswirkungen berichtet. Die erste grosse Demo als Reaktion auf Fukushima mit mehreren tausend Teilnehmern wurde von den klassischen Medien sogar komplett ignoriert. Die Aktivisten halfen sich selbst. Mit sozialen Medien, mobilen Laptops und Handys verbreiteten sie ihre Botschaften. Ansprechpartner und Kontakte für den Film zu finden war nicht schwer, denn alle Angefragten waren dankbar für eine Plattform, in der sie reden durften.

Beginn in der alternativen Szene

In dem alternativen Viertel Koenji in Tokio hat die aktuelle Protestbewegung in Japan seinen Ursprung. Hier leben auch die Protagonisten des Dokumentarfilms. Es sind Betreiber von Second-Hand-Läden, Bars oder Recycle-Shops, die schon vor Fukushima auf die Strasse gingen und demonstrierten. Doch nie waren die Zahl der Aktivisten so hoch wie heute – und die Ziele der Demonstranten so ernsthaft.

«Ihr Hobby ist es zu demonstrieren», sagt Julia Leser über die Szene in Koenji. Es sind Alternative, Anarchisten oder Spassvögel, die zum Verein shiroto no ran gehören, dem «Aufstand der Amateure». Sie halten manchmal nur mit 3 Personen eine ganze Demonstration ab, die sich dafür einsetzt, in Bahnhöfen Partys feiern zu dürfen. Nach Fukushima änderte sich der Fokus der Szene. Gegen Atomkraft, gegen die Regierung oder für mehr Freiheiten und Rechte der Bürger laufen nun die Proteste durch die Stadt, die dabei stetig mehr Zuspruch in der Bevölkerung erhalten. An der letzten grossen Demo im Juni in Tokio beteiligten sich über 20'000 Menschen - die erste grosse Demonstration seit über 20 Jahren in einem Land, wo man die eigene politische Meinung eher für sich behält.

Der inoffizielle Leiter dieser neuen Bewegung, den man fast den Erfinder der modernen Demonstration in Japan nennen könnte, ist Hajime Matsumoto. Er taucht im Film Radioactivists sehr häufig auf. Er hat einen Recycling-Shop in Koenji, wo er gebrauchte Möbel und Elektrogeräte verkauft. Das ist nicht nur sein Beruf, es ist seine Mission. Er will dem ewigen Konsum und der Verschwendung in Japan etwas entgegensetzen, in dem er verbrauchten Produkten ein neues Leben gibt.

Die Filmemacherinnen Julia Leser (rechts) und Clarissa Seidel (links) bei der Arbeit.
Die Filmemacherinnen Julia Leser (rechts) und Clarissa Seidel (links) bei der Arbeit. PD

Kreative Proteste

Hajime Matsumoto orientierte sich an Protestbewegungen in Europa, vor allem in Deutschland. Herausgekommen ist ein kreativer, bunter Dreh dieser Vorlage, die eher an eine Party statt an Politik erinnert. Bunte Clowns, Punk-Rocker oder kostümierte Protestler ziehen durch die Strassen von Tokio. Die Protestler glauben dabei weniger daran, dass sich die Regierung ändert. Sie vertrauen sich selbst. «Sie wissen, dass sie etwas tun müssen, damit sich in Japan etwas ändert» , sagt Julia Leser.

Die Proteste werden stets begleitet von einer überpräsenten Polizei. Früher, bei den Demonstrationen in Koenji, kamen auf drei Protestler 20 Polizisten. Und bei den aktuellen Protesten sieht das Stadtbild ähnlich aus. Die Beamten achten jedoch nur darauf, dass der Verkehr nicht gestört wird. So wird die grosse Demo in kleine Gruppen aufgeteilt, die so besser durch den Verkehr gelotst werden können. Die Demonstration soll nur nicht unbequem werden und auf keinen Fall andere stören.

Zurückhaltung, die Harmonie der Gruppe bewahren und nicht unbequem werden – das sind die ungeschrieben Regeln der japanischen Gesellschaft. Und auch die Demonstranten halten sich daran. Hajime Matsumoto betont stets bei den Vorbereitungen für die Demos, dass die Aktivisten niemanden stören sollen und nicht unbequem werden dürfen. Ansonsten würde niemand sie ernst nehmen.

Nähe zur Szene

Der Film von Julia Leser und Clarissa Seidel fokussiert sich sehr stark auf die Szene in Koenji. Man sieht und spürt die Nähe der Filmemacher zu dieser alternativen Gemeinschaft. Radioactivists ist einzigartig in der Hinsicht, dass die Macher zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren, um den Ursprung der neuen Anti-Atom-Proteste in Japan zu begleiten. «Es ist eine Moment-Aufnahme vom Beginn einer Bewegung», sagt Julia Leser über die 3-wöchige Drehzeit. Doch die aktuellen Protesten, die sich durch die gesamte Gesellschaft und alle Hierarchien ziehen, besteht nicht nur aus den bunten Clowns aus Koenji. Es gibt viele kleine und grössere Gruppen mit ähnlichen Zielen, die an über 140 verschiedenen Orten in Japan aktiv sind. Diese andere Perspektive bietet der Film nicht.

Der Film ist komplett in Japanisch gehalten und mit Untertiteln versehen. Es soll sowohl Japanern als auch internationalen Zuschauern die Szene in Koenji nahe bringen. Hier brilliert der Film und zeigt einen Blick hinter den Kulissen, den selbst japanische Medien nicht erreichen würden. Verständlich und tief wird die Szene beobachtet. Die Frage, ob es die Alternativen aus Koenji mit ihren Demos ernst meinen, oder doch nur zum Spass auf die Strasse gehen, kann Julia Leser auch nicht beantworten – doch gerade diese Grauzone findet sie so spannend.

«Die Demos haben inzwischen schon etwas erreicht», sagt sie auf die Frage nach einem Erfolg dieser jungen Bewegung. Einige Reaktoren sind inzwischen abgeschaltet (zum Artikel) und die Proteste erlangen immer mehr Zuspruch in der Gesellschaft, was sich an den stetig zunehmenden Teilnehmerzahlen ablesen lässt. Das ist auch ein Ergebnis, dass Julia Leser auf die Arbeit der Koenji-Szene zurückführt: «Japaner sehen nun, dass man auf die Strasse gehen und sich dort aktiv politisch beteiligen kann. Das ist der grösste Verdienst der Aktivisten aus Koenji».

Mehr zum Dokumentarfilm Radioactivists finden Sie hier.

Fritz Schuman (fs), der Autor dieser Reportage, hat längere Zeit in Tokio gelebt und berichtet regelmässig als freiberuflicher Fotograf und Autor über Japan. Zu seinen Publikationen gehört u.a. ein Buch über Hiroshima und die Anti-Atomkraft-Proteste dort, erschienen 2010 im Verlag edition.ost.