Im Tal der Puppen
Das Dorf Nagoro stirbt aus. Eine Bewohnerinnen hat ein ungewöhnliches Mittel gegen die Einsamkeit gefunden: Sie fertigt lebensgrosse Puppen, die an die Stelle der Verstorbenen und Weggezogenen treten.

Etwas Angst haben sie im Tal. Nachts. Vor den Puppen. Wenn man die engen, kurvigen Strassen der Schlucht mit den Scheinwerfern abtastet, sieht man ab und zu eine Person am Strassenrand. Nur ist es kein echter Mensch. Es ist eine lebensgrosse Puppe. Eine von zirka 350 im gesamten Tal. Alle von ihnen wurden von einer Person gemacht.
Ayano Tsukimi kann darüber nur lachen. «Angst? Die sind doch süss, die Puppen! ». Seit zehn Jahren stellt Ayano sie nun schon her. Hier im Tal gibt es ansonsten wenig zu tun. Die meisten ihrer Nachbarn im Dorf Nagoro verschwenden ihre Zeit mit Pachinko, für das sie knapp zwei Stunden lang in die nächste Präfektur fahren.
Ayano hält nichts davon. Also hat sie angefangen, gegen die Langeweile und Einsamkeit Puppen von den Bewohnern im Dorf herzustellen, wenn diese verstorben oder weggezogen sind. Als das dann als Vorlage nicht mehr ausreichte, entwickelte sie eigene Ideen für neue Figuren. Ihre Puppen sind weder Japaner noch Ausländer. Aber Menschen sind es schon, irgendwie. «Sie sind wie meine Kinder», sagt Ayano Tsukimi.
Keine Schule, keine Ampeln
Es ist still im Dorf. Die Schule hat vor zwei Jahren geschlossen, als die Kinder ausblieben. Der Bus kommt nur am Wochenende und wer nicht im Tal wohnt, hat keinen Grund durch Nagoro zu fahren. Die nächste Ampel ist eine Stunde Autofahrt entfernt, die nächste Bahnstation anderthalb. Man hört hier nur das konstante Plätschern vom Fluss Iya, der die Schlucht formte.
Fragt man im Tal nach Ayanos Puppen, bleibt es ebenso still. So richtig aussprechen möchte es keiner. Aber vielen sind die leblosen Figuren nicht ganz geheuer. Und die Mutter der Puppen? Kein Kommentar.
Das verlorene Japan
Ungefähr 2000 Menschen leben hier, im Herzen von Shikoku, in der Präfektur Tokushima. Das Tal gilt als abgeschieden und wild. Einige Gegenden hier hatten bis zu den 1960er-Jahren keinen Zugang zum Stromnetz.
Die gewaltigen Schluchten durchziehen alte Seilbrücken, die in den letzten Jahren immer mehr Touristen angezogen haben. Sie alle suchen das «verlorene Japan», wie Autor Alex Kerr es bezeichnet. Auch wenn die Schlucht heute weniger verwunschen ist als früher. Beton zwängt den Fluss an einigen Stellen in seine Bahn. Dörfer, die vom Tourismus gewachsen sind, haben neue Gebäude auf den Hang gebaut. Heute stehen sie grau auf rostigen Stelzen und trotzen der Natur.
Alleine ins Tal gezogen
Ruhe scheint auch Ayano Tsukimi gesucht zu haben. Vor elf Jahren kam sie aus Osaka zurück. Sie hat in ihrem Leben nie einen Beruf erlernt, sondern immer nur im Geschäft der Familie ausgeholfen. Nach der Heirat war damit auch Schluss.
Ihr Mann und ihre Tochter leben heute noch in Osaka. Sie sind nicht mit ihr zurück ins Tal gekommen. «Weil mein Mann die Luft hier nicht verträgt», sagt Ayano Tsukimi. Und trotzdem scheint sie ihn nicht zu vermissen hier. Sie hat ja ihre Puppen. 24 von ihnen wohnen mit ihr zusammen im Haus ihres Vaters. Mehr als 60 stehen in ihrem Garten, über 70 befinden sich in der alten Schule. Und der Rest verteilt sich im Tal. Wie viele es genau sind, weiss Ayano nicht mehr. Einige sind auch so gut in der Landschaft versteckt, dass man sie erst suchen muss.
Ein Touristenmagnet
Sie geniesst die Aufmerksamkeit durch die Touristen, die am Wochenende teilweise in Scharen kommen. Am Eingang vom Tal haben sie die Puppen gesehen, oder im Internet davon gelesen. Gerne erzählt Ayano Tsukimi dann von den Personen aus dem Dorf, die es jetzt nur noch als Puppen gibt. Manchmal bastelt sie auch zusammen mit den Touristen.
Aber nach ein paar Stunden ist es auch wieder gut und sie bittet die Leute zu gehen. Wer im Iya-Tal wohnt, geniesst die Ruhe. Und Puppen reden nicht.


